Home Back

30. Berufliche Auszeit – ein Weg, Beruf und Pflege der Mutter miteinander zu vereinbaren

Vorgestellt vom „Sozial Innovation Fund“, Litauen

Interviewte Person: Giedra-Marija L, weiblich

Darstellungsform des Interviews: Zusammenfassung des Interviews durch den Autor / die Autorin sowie Originalzitate

In welchen Bereichen hat die Beschäftigte Unterstützung erhalten?

    • Unterbrechung der Karriere

Giedra-Marija L. ist unbefristet beschäftigte Dozentin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Kaunas Vytautas Magnus University. Gleichzeitig ist sie Vorsitzende des Centre for Educational Studies.

Ihre Tätigkeit als Dozentin unterliegt einem strikten Zeitplan, während sie die Arbeitszeit am Centre for Educational Studies flexibel gestalten kann.

Giedra ist 68 Jahre alt und Witwe. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist bereits Großmutter. Im Herbst 2009 gab ein familiärer Vorfall ihrem Leben eine neue Wendung.

Giedras 93jährige Mutter wurde plötzlich schwer herzkrank und musste sich einen Herzschrittmacher einsetzen lassen. Damals wohnte ihre Mutter zusammen mit Giedras Schwester in Vilnius. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus brauchte ihre Mutter viel Pflege und musste rund um die Uhr betreut werden. Für Giedras Schwester war es auf Dauer zu anstrengend, sich allein um die Mutter zu kümmern. Daher fasste Giedra den Entschluss, ihre Mutter zu sich nach Hause nach Kaunas zu holen.

Das war keine gewöhnliche Situation. Ich musste klären, wie ich meine Pflichten gegenüber meiner Mutter und die Pflichten gegenüber den Studierenden vereinbaren konnte. Die Vorlesungen finden nach einem strikten Stundenplan statt, der vorab bekannt gegeben wird.“ Schließlich beschloss Giedra, vier Monate unbezahlten Urlaub zu nehmen und sich vollständig der Pflege ihrer Mutter zu widmen. Eine Betriebsvereinbarung der Vytautas Magnus University sieht vor, dass Beschäftigte mit kreativen Aufgaben (Verfassen von Büchern oder Artikeln, regelmäßige Teilnahme an Kursen zur Qualifizierung etc.) sich für einen festgelegten Zeitraum ohne Gehaltsfortzahlung von der Arbeit freistellen lassen können. Giedra bezeichnet diesen Zeitraum inoffiziell als unbezahlten Urlaub.

Die Leitung der Universität hatte keine Einwände gegen Giedras Antrag, sich für vier Monate von ihrer Dozentinnentätigkeit freistellen zu lassen. „Einer der Gründe, dass mein Antrag sofort genehmigt wurde, war vielleicht meine langjährige Tätigkeit ani der Universität. Ich arbeite dort schon seit der Gründung der Einrichtung“, berichtet Giedra. Wie sie sofort hinzufügt, werden jedoch den Beschäftigten der Universität generell keine Hindernisse in den Weg gelegt, wenn sie aufgrund wichtiger persönlicher Probleme eine Auszeit nehmen müssen.

Nachdem sie das Problem im Zusammenhang mit ihrer Arbeit an der Universität gelöst hatte, konnte Giedra sich zu Hause um ihre Mutter kümmern. Ihre Arbeit am Centre for Educational Studies setzte sie fort. Hier konnte sie ihre Zeit flexibel einteilen auch zu Hause arbeiten. Durch das Zusammenleben hat sich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter stark verbessert. Ihre Beziehung hatte gelitten, als die Mutter in einer anderen Stadt mit Giedras Schwester zusammenwohnte. Der enge Kontakt zur Mutter half Giedra, verdrängte Gefühle zu offenbaren. „In all der Zeit, in der ich meine Kinder großgezogen und gearbeitet habe, habe ich mich hauptsächlich auf meine Familie und meinen Beruf konzentriert. Durch das Zusammenleben mit meiner Mutter haben wir unsere Beziehung neu belebt. Wir haben Freude an gemeinsamen Gesprächen über die Geschehnisse im Ort oder über ein Konzert oder einen Film, den wir uns angesehen haben. Wir betrachten unsere Arbeit oft als das Wichtigste im Leben. Wir verdienen Geld, das wir dann für Pflegedienste für unsere Eltern ausgeben, statt uns die Zeit zu nehmen, uns selbst um sie zu kümmern. Eines Tages werden wir selbst alt sein und uns wünschen, dass unsere Kinder sich um uns kümmern. Menschen, die in liebevolle Beziehungen eingebunden sind, werden menschlicher und weniger egoistisch. Sie werden einfach warmherziger und offener für ihre Umgebung.“

Als Expertin für lebenslanges Lernen betont Giedra, wie wichtig es ist, Menschen beizubringen, ihre beruflichen oder familiären Pflichten richtig einzuschätzen. „Man muss sich entscheiden, was man in seinem Leben lernen möchte. Nur dann wird man vom Leben belohnt.“ Giedra entschied sich zu lernen, wie sie das Leben ihrer Mutter interessanter gestalten könnte. Sie entdeckte die „wunderbare Beschäftigung“, Bücher vorzulesen, da ihre Mutter nicht mehr selbst lesen konnte. Es bereitete ihr viel Freude, Literatur auszuwählen, die ihrer Mutter gefallen würde. Die gemeinsame Zeit mit der Mutter gab Giedra Gelegenheit, ihre sozialen Kompetenzen auszubauen und ihren Horizont zu erweitern. „Im Zusammensein mit meiner Mutter bin ich kreativer geworden. Immer wenn ich merkte, dass meine Mutter etwas brauchte oder sich nicht wohlfühlte, versuchte ich, mir etwas einfallen zu lassen, um sie aufzumuntern. Auf diese Weise fühlte ich mich auch selbst besser. Auch für mich war die Erfahrung wertvoll: Man fühlt sich nicht nur gut wegen der Dinge, die man getan hat, sondern ist auch glücklich, weil man einen anderen Menschen glücklich macht.“

Der Gesundheitszustand von Giedras Mutter verbesserte sich in den vier Monaten, die Mutter und Tochter gemeinsam verbrachten erheblich. Die Mutter konnte nach Vilnius zurückkehren, wo sie wieder mit ihrer zweitältesten Tochter zusammenlebte. Giedra konnte ihre Arbeit wieder aufnehmen. An der Universität stellte Giedra fest, dass sich ihre Kolleginnen und Kollegen ihr gegenüber anders verhielten – die Kommunikation war nun freundlicher und herzlicher. „Vorher sahen sie in mir nur die Leiterin oder Vorgesetzte. Jetzt stellten sie fest, dass ich ebenso wie jeder andere Mensch Probleme zu Hause hatte. Sie wussten zwar, dass ich eine alte Mutter habe, doch durch die Auszeit, die ich genommen habe, um ganz für meine Familie da zu sein, hat sich unser Verhältnis verbessert.“

Wie Giedra ausführt, sollten Arbeitgeber in Litauen flexiblere Arbeitsregelungen schaffen und unterschiedliche Formen der Arbeit wie z.B. Telearbeit und Teilzeitarbeit ermöglichen. „Keine Firmenleitung ist strikt dagegen, aber die Manager stoßen bei der Umsetzung auf verschiedene Probleme. Es sollte ein System von „Ersatzmitarbeiter/innen“ geben, die die Aufgaben eines Beschäftigten, der aufgrund familiärer Probleme überraschend zu Hause bleiben muss, kurzfristig übernehmen können. Stellen Sie sich vor, es brennt und Sie müssen ein Feuer löschen. Auch dieses Ereignis tritt unerwartet ein. Wenn ein Arbeitgeber keine Vorkehrungen für diese Fälle getroffen hat, weiß er nicht, was er machen soll. Die Aufgabe ist nicht einfach, kann von guten Managern jedoch gelöst werden.“